Auftrag: Verfassungsgerechte Regelsätze

Im Februar 2010 hat das Bundesverfassungsgericht die Berechnung der Regelsätze von Arbeitslosengeld II sowie der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung für verfassungswidrig erklärt. Es ist davon auszugehen, dass die neuen Berechnungen der Bundesregierung wiederum gegen die Verfassung verstoßen, da wichtige Anforderungen des Bundesverfassungsgerichtsurteils nicht beachtet wurden. Das Bundesverfassungsgericht hat dieses so genannte Statistikmodell, also die Berechnung der Regelsätze auf Basis der untersten 20% der Einkommensverteilung nach Herausrechnung der SozialhilfebezieherInnen als verfassungsgemäß bezeichnet, aber insbesondere folgende Punkte kritisiert:

 

- Die bisherige Berechnung wurde als Verordnung, also von der Bundesregierung zusammen mit den Landesregierungen beschlossen. Dies müsse zukünftig in einem transparenten Entscheidungsverfahren vom Parlament geschehen und als Gesetz verabschiedet werden

 

- Bei der Berechnung der Regelsätze müsse darauf geachtet werden, dass Zirkelschlüsse vermieden werden.

 

- Die Abschläge, die bei den bisherigen Berechnungen vorgenommen wurden, müssen begründet sein, z.B. weil der entsprechende Ausgabenposten für Grundsicherungsbeziehende kostenlos ist, oder auf der Basis von empirischen Berechnungen stattfinden. Unter diesen Bedingungen räumt das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber (also dem Parlament) einen gewissen Ermessensspielraum ein. Das physische Existenzminimum sowie ein gewisses Maß an sozio-kultureller Teilhabe müsse aber gewährleistet sein.

 

- Die Berechnung von Kinderregelsätzen als Prozentanteil des Regelsatzes für Erwachsene ist verfassungswidrig. Diese müssen durch separate Auswertungen ermittelt werden.

Zum Teil ist die Bundesregierung diesen Anforderungen nachgekommen, insbesondere wurden der Regelsatz der Kinder auf der Basis von Paaren mit einem Kind berechnet. Von einem existenzsichernden Einkommen sind wir weit entfernt.

 

Erstens hat die Bundesregierung das Einkommen der Vergleichsgruppe systematisch kleingerechnet.

Zweitens hat die Bundesregierung eine Vielzahl von Ausgabenposten ohne empirische Grundlage oder mit der Begründung, dass sie kostenlos zur Verfügung gestellt werden, aus der Berechnung herausgenommen.

Drittens gibt es einige sonstige Punkte, die verfassungsrechtlich problematisch sind, u.a. werden die Regelsätze der Eltern von denen der Alleinstehenden abgeleitet, und dass dieses begründet wird und obwohl es auf Basis der bereits vorgenommen Berechnungen zur Ermittlung der Kinderregelsätze ohne weiteres möglich wäre, den Regelsatz der Eltern auf Basis der Ausgaben für Familien mit Kindern zu berechnen.

Darüber hinaus gibt es einige Berechnungen, die (wahrscheinlich) nicht verfassungswidrig, aber politisch hochproblematisch sind. Dazu gehört, dass Kosten für Speisen und Getränken in Gaststätten und Cafes nur in Höhe des Warenwertes berücksichtigt wurden. Statt der Kosten für eine Portion Pommes Frites tauchen also im Regelsatz nur die für die Kartoffeln und das Fett auf.

 

Uwe Lübking, Sozialexperte vom Städte- und Gemeindebund: „Wenn Hartz-IV-Bezieher mehr Geld erhalten oder mehr hinzuverdienen dürfen, rutschen automatisch mehr Menschen ins System, deren Einkommen bisher noch oberhalb der Grundsicherungsgrenze liegt.“ Dann müssten die Kommunen auch mehr Menschen Unterkunftskosten zahlen. Lübking: „Wir erwarten, dass der Bund diese Mehrkosten der Städte und Gemeinden ausgleicht.“

Entstehung einer Hartz-IV-Industrie

Meine These ist, je weniger Bürokratie, desto mehr kommt unten an. Dies hat sich durch die monströse Verwaltung und die bizarren Formen der Förderung bestätigt. So wurden 2010 etwa 49 Mrd. Euro Hartz-IV-Leistungen ausgeschüttet. Davon flossen 25 Mrd. Euro an die Hartz-IV-Industrie für Fortbildung, private Arbeitsvermittlung, Rechtsanwälte, Wohlfahrtskonzerne, Hartz-IV-Supermärkte, Kleiderkammern, Hartz-IV-Tafeln und Nachhilfelehrer oder Hartz-IV-Bildungskoordinatoren. Nur 24 Mrd. Euro bekommen die Hartz-IV-Empfänger. Vermieter können sich freuen, denn Hilfeempfänger sind solvente Mieter selbst für die schlechtesten Wohnungen. Supermarktketten können selbst welkes Gemüse noch an die Tafeln weitergeben, haben ihr Entsorgungsproblem gelöst und bekommen sogar noch eine Spendenquittung dafür. Und private Arbeitsvermittler verbuchen Rekordgewinne, ohne nachhaltige Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt. Die sonst so sparbegierige FDP erhebt keinen Einspruch, gehören die Neuunternehmer doch zu ihrer Klientel. Glücksritter und Betrüger wittern Morgenluft.  Am Anfang der Hartz-IV-Wertschöpfungskette steht stets die Arbeitsagentur.

 

Kurz: Die Arbeitsmarktreform Hartz IV ist zu einem Motor der florierenden Armutsindustrie geworden.

 

Ursula von der Leyen (CDU) möchte mit der 42. Gesetzesnovelle, dass die Mittel dafür um weitere 700 Mio. Euro aufgestockt werden. Um ihr Bildungspaket zu organisieren, sollen 1.300 zusätzliche Verwaltungskräfte eingestellt werden. Die Reform der Reform geht am eigentlichen Hartz-IV-Problem vorbei.Ursprünglich sollte mit den Hartz-Reformen der schlanke Fürsorgestaat kommen. Gekommen ist eine hochsubventionierte Armutsindustrie und eine Prozesswelle vor Gericht (2010: 200.000 Klagen und Widerspruchsverfahren).

 

Die fachlichen Stellungnahmen fallen entsprechend deutlich aus. "Zu 80% wurde Blödsinn finanziert", heißt es von Mitarbeitern der Arbeitsagentur (nachzulesen in: Der Spiegel 1/2011).

Kritik am ökonomischen Leitbild der Hartz-Reformen

Über Ursachen und Therapien der Massenarbeitslosigkeit herrscht Uneinigkeit. Nach dem ökonomischen Leitbild der Hartz-Kommission wird Arbeitslosigkeit mit Reallohnlücken (wage gap) und Lohnrigidität erklärt. Behauptet wird, die Arbeitslosigkeit sei ohne moderate Lohnpolitik noch viel höher. Erheblich radikalere Positionen vertreten Teile der öko­no­mischen Fachdisziplin, Journalisten und Wirtschaftslobbyisten: Hauptsache Löhne und Transfers gehen nach unten. Gering qualifizierte Lang­zeitarbeitlose seien entsprechend ihrer niedrigen Produktivität zu entlohnen. Das neolibe­rale Arbeitsmarktmodell greift aber zu kurz, weil auf dem differenzierten Arbeitsmarkt ­keine einheitlichen Gesetze gelten und nur Lohn- und Leistungskürzungen gegen Arbeitslosigkeit hilft. Wenn die harte Hand gegen Arbeitslose geholfen hätte, dann wäre der harte Kern der Arbeitslosigkeit abgeschmolzen. Gesunken sind aber nur die Einkommen. Gestiegen sind allerdings die Gewinne von großen und auch kleinen Firmen.

Wege zu mehr Beschäftigung

Wie wird die harte Hand gegen Arbeitslose begründet? Schaut man auf der Website der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) nach den Ursachen und Lösungen zur Arbeitslosigkeit, findet man einen Artikel von Prof. Dr. Wolfgang Franz: "Wege zu mehr Beschäftigung". Er vertritt die Mehrheitsmeinung der deutschen Arbeitsmarktpolitik und hat eine sehr rigide Haltung. Er erklärt, wie wir vor allem durch Lohnsenkung Arbeitslosigkeit bekämpfen. Er ist Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung GmbH (ZEW) in Mannheim, Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie und damit maßgeblicher Berater der Bundesregierung. Seine Thesen habe ich kurz zusammengefasst.

 

Es gebe zwei Problemgruppen auf dem Arbeitsmarkt: Geringqualifizierte und Langzeitarbeitslose. Arbeitsplätze für Geringqualifizierte lassen sich schaffen oder erhalten, wenn die Arbeitskosten, für die Firmen nicht höher sind als die Produktivität auf diesem betreffenden Arbeitsplatz. Es war ein Fehler früherer Jahrzehnte, die Schlechtverdiener an die Durchschnittsverdienste heranzuführen. Er bietet zwei Lösungswege an: Erstens müssen die Löhne weiter nach unten „gespreizt“ werden, dann bieten die Firmen auch wieder Jobs an. Zweitens müssten die Sozialtransfers sinken, damit sich Arbeit lohnt.

 

Doch das Lohnabstandsgebot sei verletzt worden. Sicher haben auch im alten System Menschen bei niedrigen Löhnen gearbeitet. Wenn sich Arbeitslose trotzdem um legale Arbeit bemüht haben, würden sie mit dem hohen Abzug für Hinzuverdienste bestraft. Deshalb müssten die Hinzuverdienste noch mehr belohnt werden als dies mit Hartz IV der Fall ist. Hartz IV müsse deshalb soweit wie gesetzlich möglich unter das Existenzminimum fallen.

 

Arbeitsplätze für Langzeitarbeitslose werden verhindert durch den Kündigungsschutz. Das liegt noch nicht einmal an den Gesetzen, sondern an der Rechtsprechung. Das lässt sich durch Gesetzesänderung bewirken und durch freiwilligen Verzicht neu eingestellter Beschäftigte auf den Kündigungsschutz.

Was ist davon zu halten?

Nirgends wird der Streit über die Ursachen der Arbeitslosigkeit ideologischer geführt als in Deutschland. So frohlocken die rechten Ökonomen hierzulande über den Nobelpreis 2010 an drei Forscher, denen sie zuschrieben, die theoretischen Grundlagen der Arbeitsmarktreformen geliefert zu haben. Pissarides, Diamond und Mortensen haben für ihre Untersuchungen zu den Friktionen am Arbeitsmarkt den höchsten Preis für den neoliberalen Umbau des Staates erhalten. Vorher hatte ihn Paul Krugman als Vertreter des Neokeynesianismus erhalten. Dieser freut sich für seine Kollegen, hilft aber uns beim Verständnis mit zahlreichen Zeitungskolumnen. Denn tatsächlich gibt es strukturelle Arbeitslosigkeit. Schwerer wiegen aber Konjunkturschwankungen. Die sind viel stärker und bedeutsamer. Sie können nur mit kräftigen Investitionen etwa durch staatliche Konjunkturprogramme geglättet werden. Haben die Ökonomen hierzulande die Nobelpreisträger falsch verstanden oder interpretiert? Offensichtlich schon.

 

Franz will gar nichts bereitstellen, und zuletzt Jobs. Er will Löhne kürzen, damit Arbeitgeber möglichst wenig bezahlen müssen und Hartz IV absenken, damit Arbeitslose sich nicht in der sozialen Hängematte ausruhen. Ich möchte zugunsten von Franz annehmen, dass er dies nicht zynisch meint, sondern nur eingemauert ist in seine kleine Gedankenwelt. Von Existenzsicherung oder gar Produktivitätsentwicklung scheint er allerdings nichts zu halten.

 

Bildung und Qualifikation wäre die Gegenstrategie gewesen, was aber bei Franz nicht vorkommt. Wie sollen sich Geringqualifizierte besser qualifizieren, wenn sie in die Einkommensarmut gezwungen werden. Dadurch gelingt der Bildungsaufstieg für Hilfeempfänger und ihre Kinder nicht. Einmal Hartz IV, immer Hartz IV. Langzeitarbeitslose kämen nicht in Arbeit - so seine zweite These - weil die Betriebe zuviel für den Kündigungsschutz (Abfindungen) ausgeben und die Gerichte auf unterer Instanz zu mildtätig wären. Und durchaus: Kündigungsschutz ist tatsächlich eine deutsche Besonderheit. In Dänemark gibt es ihn nicht. Allerdings ist das Arbeitslosengeld auch recht hoch. Aber das will Franz ja auch nicht.

 

Der Nobelpreisträger Krugman kritisiert die rechten Ökonomen mit ihrer  „Zombie-Ökonomie“ und wundert sich, warum sie noch an den Schalthebeln der Macht sitzen, obwohl sie auf ganzer Linie versagt haben. Siehe da.

Lohnsubvention - Beispiel Bürgerarbeit

"Bürgerarbeit" heißt das neue Steckenpferd gegen verfestigte Arbeitslosigkeit. Nach dem Modell der Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) dient sie nicht nur der statistischen Bereinigung der Arbeitslosenzahlen. Bürgerarbeit sei ein schlaues Instrument, Zwangsbeiträge der Bundesregierung an die EU wieder zurückzuholen, ist zu lesen. Von Intergration in den ersten Arbeitsmarkt liest man nichts. Allerdings kommen diese Gelder nicht den Arbeitslosen zugute, sondern fließen als Maßnahmekosten und Lohnsubventionen an Firmen, deren Erwerbszweck es vielfach ist, mit Arbeitslosen Geld zu verdienen.

 

Bürgerarbeit stößt nach diesem Modell bei der Gewerkschaft ver.di auf Ablehnung, weil damit der Niedriglohnsektor erweitert werden soll. Bürgerarbeit entzieht sich dem Geltungsbereich des "Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst" (TVöD). Allenfalls besteht die Möglichkeit, dass ein Bürgerarbeiter nach Modell "von der Leyen" auf Zahlung eines Tariflohnes nach TVöD klagen kann.

 

Mittelstandsförderung als Klientelpolitik eben.

Warum Lohnsubventionen nur teuer sind und den Langzeitarbeitslosen nichts bringen

Das Reform-Paket Hartz I-V sollte die Arbeitslosigkeit durch eine Verwaltungsreform, die Neuordnung der geringfügigen Tätigkeiten, sowie geringere Transferleistungen halbieren. Hinzu kommen Lohnsubventionen an Geringverdiener oder Lohnkostenzuschüsse an Arbeitgeber. So hat es den Steuerzahler seit 2005 gigantische 50 Milliarden Euro gekostet, die Niedriglöhne in Deutschland aufzustocken. Damit dient im Hartz-IV-System derzeit fast jeder dritte Euro dazu, niedrige Löhne anzuheben, weil diese allein den Lebensunterhalt nicht sichern.

Das wäre zu verschmerzen, wenn das Reformwerk tatsächlich die Langzeitarbeitslosigkeit gesenkt hätte. Opfer müssen gebracht werden, so denkt man. Trotz Erfolgsmeldungen auf dem Arbeitsmarkt hat sich aber nur der Trend zur geteilten Arbeitswelt verstärkt. Der harte Kern der Arbeitslosigkeit ist im der harten Hand gegen Arbeitslose nicht geknackt worden.

Warum haben die Grünen bei der Agenda 2010 mitgemacht?

War es unter Schröder-Fischer bloßer Wille zum Machterhalt, der die Grünen bewog, den Arbeitsgesetzen zuzustimmen? War es Clientelpolitik angesichts der grünen Mitarbeiter in den Sozialverwaltungen?

 

Fest steht: Niedrigverdiener gibt es bei den Grünen kaum. Es sind eher gut verdienende Beamte und Selbstständige unter den Grünen Wählern. Die von den Grünen vertretene neue Bürgerlichkeit ist Ausdruck eines Lebensgefühls. Politisch abstinent, aber mit Anspruch, zur Bildungselite zu gehören. Die Protagonisten des Kapitalismus werden verachtet. Die Angst vor dem sozialen Abstieg geht um. Der ökonomische Druck, die Angst vor sozialem Absturz in die Unterklasse, befördert die Sehnsucht nach sozialer Stabilität.

Es geht um die Solidarität der Mittelschichten mit der Unterklasse. Wenn die Grünen die Regelsätze erhöhen wollen, wird dies die Mittelschicht belasten. Ob das im Sinne des Gemeinwohls getragen wird, wird eine Zukunftsfrage sein.